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Eröffnungsrede Mich schaudert des Krieges …

Die Eröffnungsrede von Ulrike Brummert zur Ausstellung der Grafischen Arbeiten Georg Gelbkes und der Künstlergruppe Chemnitz am 01.03.2015 im Schloßbergmuseum:

KRIEG_MEDIEN_KUNST

Das, was zählt [für uns],
Haben wir das gewählt?

Schwarz_weiss_braun_gelb

Die Haut
Smaragdgrün
Tiefseeblau
Haselnussbraun
Die Augen
Mandeln_Feuerhöhlen_Sterne

Wallend
Piseldünn
Störrisch
Lockig
Masemattig
Kraus_kraus_kraus
Seidenvorhang
Das Haar

Aristokratisch
Stupsig
Zinken
Haken
Platt
Schief
Die Nase

Rabenschwarz
Strassenköterblond
Fuchsschwanzrot

Dick_dünn
Dick_dünn
Dünn_dick
Dünn_dick
Gewaltig
Mickrig
Zwergig
Leuchttürmig
Majestätisch
Krumm.

Indischrosa
Matrosenblau
Schleifen_Schleifen_Rosenrosa
Fernfahrer_DJ_UNO_blau
Ein Mädchen
Ein Junge

Ein Mädchen
Ein Junge

Ein Mädchen
Ein Junge

Du_Du_Du_Du
Dutzi_Dutzi_Dutzi_Duuuu

Ich?

Bei wem?
Von wem?

Erzeuger und Eltern
Werden nicht ausgesucht.

Und wo?
Meaux
Melle
Milte
Hilter
Herzebrock
Hohenstein
Hoyerswerda
Verden an der Aller
Verdun
Dünkirchen
Kirchhellen
Duisburg
Bourg-la-Reine
Rimini
Islamabad
Bad Sooden-Allendorf
Tomsk
Omsk
Odessa
Santorin
Rivesaltes
Salamanca
Athen
Napoli
Idar-Oberstein
Stein am Rhein
Rheinhausen
Haus
Maus
Stadt
Burg
Neu_Neu_Neu

Passiert
Ohne uns
Without you

Und wann
Ja wann
Und überhaupt

Gefragt_njet
Gewählt_no
Einfach geworfen
Geworfen
Worfen, Worfen
Orfen, Orfen
Ins pralle Leben.

Wir alle
Ausnahmslos
Geworfen
Ins Leben.

Tja.
Tja.
Tja.
Und nu?

Leichtigkeit
Bedeutungslosigkeit
Die Unerträglichkeit
Der Leichtigkeit
Des Seins

Zu Beginn des Lebens
Ist das menschliche Wesen
Hilflos,
Wird durch_in dieGemeinschaft_die, in die geworfene_

Geführt
Geformt
Geknetet
Geprägt
Geknebelt
Geknechtet

Erhoben?
Aufgenommen?

Gehorsam
Gehorsam
Est le maître–mot.

Es so zumachen
Wie die Altvorderen
Es fordern
Ist zu Lebensbeginn
Überlebens_Alles.

Annahme
Über Einführung
Die Crux.
Wir werden
zu Ja-Sagern

Ja, Mami.
Ja, Vati.
Ja, Eva.

Ja, ja, ja, ja
Wir alle_ja.

Ja, ich will.
Non, monsieur le Président.

Die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins.
Wie aushalten
Die leere Fülle
Die volle Lehre
Zwischen den Nebeln des Anfangs
Und der unausweichlichen
Sicherheit
Des Todes.

Tod
Nix nichts
Exit
wech_wech_wech.

Leicht wie eine Feder
Feder_fliegen_fliegen
Schweben.

*

Eine Wahrheit
Eine, einzige, alleinige
Allumspannende
Wahrheit
Eine
Wahrheit
Für Alle & Alles

Meine, meine
Nur meine, eine
Wahrheit
Für den Erdenball
High, high, high.

*

Ran, Ran, Ran,
Ich gewinne ALLE
Mit meinen Geschichten
Meinen Träumen
Meiner Schönheit
Meinen Talenten
Meinen Schiffen
Meinen U-Booten
Meinen Waffen.
Wer nicht für mich

Spieglein, Spieglein vor dem Herd.
Wer ist die Größte auf der Erd‘

Germania
Du bist die Größte auf der Erd‘
Aber jenseits des Rheins,
Marianne Seins
Ist größer als Deins.

Das 19. Jahrhundert gebiert die Nation.
Sie erfindet sich allumfassend.
Sie ist schon immer da.
Sie ist die neue Göttin.

Weg mit dem welschen Plunder
Hermann der Cherusker
Turnvater Jahn
Liedertafeln
Männerbünde.

Göttin mit Alleinvertretungsanspruch

Aber_maber_schlaber

Ein Heer von monotheistischen
Göttinnen formiert sich.

Wie
Patatras

Die französische Göttin gedemütigt
Die englische Göttin amüsiert
Die deutsche Göttin umzingelt
Umzingelt_eingekreist_bedroht.

Jede hat ihre Wahrheit
Die einzige_die wirklich wahre
Die unverbrüchliche.
Die Absolute.

Gibt es mehr als eine absolute Wahrheit?
Die Wahr_heit.
Zwei, drei, vier, absolute Wahrheit
Immer einzig.
Die Göttinnen_Wahrheiten
Vis-à-vis.

Alle Nations_Göttinnen_Gemeinschaften
Sind jede für sich
Von ihrer Wahrheit
Durchdrungen.

Wahrheit
Gerufen
Geschrieben
Gesegnet

Im Lied
Im Drill
Im Aufsatz
Im Journal
Im Extrablatt.
Gestempelt
Beglaubigt
Gesegnet.

Ja_ja_ja so ist’s.

Wir gehorchen.
Wir sind aufrichtig
Überzeugt
Wir fürs Vaterland
Für Germania
Marianne
Borussia
Saxonia
Britannia
Mütterchen –

Konstelliert sich
Eine Absolute
Wahrheit mit anderen Wahrheiten

Wech_wech_wech
Vom Tisch
Vom Erdball.

Das Deutschtum wird nach diesem Krieg über alle Grenzen schwillen.

Franz Marc, Vossische Zeitung, 15. Dezember 1914

Alle Kriege sind Glaubenskriege
Glaubenskriege alle
Menschengemacht
Von Menschen
Für

Macht heißt
Über Lebenszeit von Menschen verfügen
in Worten und Taten
Absolute Macht
Usurpierte Macht
Gewalt

Heißt über Tod und Leben
Von Menschen
Urteil zu fällen
Und zu vollstrecken.

Derjenige, der Töten kann, der tötet,
Fühlt sich
Der Fatalität des
Eigenen Todes enthoben.

Krieg ist
Fällen
Köpfen
Schlachten.

Menschenschlachten

Läuse
Ratten
Drahtverhau
Flöhe
Granaten
Bomben
Höhlen
Leichen
Blut
Schnaps
Mäuse
Katzen
Gase
Kanonen
Dreck
Kugeln
Mörser
Feuer
Stahl
Das ist der Krieg!
Alles Teufelswerk!

Otto Dix, Kriegstagebuch.
Der bewachte Kriegsschauplatz
Manche Nationen jagten ihre Zwangsabonnenten auch mit den Maschinengewehren in die Maschinengewehre.
So kämpften sie.
Da gab es hier jahrelang ganze Quadratmeilen Landes,
auf denen war der Mord obligatorisch,
während es eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war.
Sagte ich, Mord?
Natürlich Mord.
Soldaten sind Mörder.

Ignaz Wrobel, alias Kurt Tucholsky, Die Weltbühne,
14. August 1921.

Willy Wolfradt
über das verschollene Gemälde
Der Schützengraben (1923) von Otto Dix

„[…] wahrlich zum Kotzen und nicht zum Komfort ist das gemalt, dies himmelsschreiende Stilleben der Würmer in aufgeschmetterten Schädeln, diese wahnsinnige Landschaft gespießter, wild zusammengestampfter Leiber. Eine gewisse ‚Insdiskretion der Mittel‘ ist ja nicht in Abrede zu stellen. Aber die wird doch wohl dem Kriege auch nachgesagt, eben in diesem Bild. Wie so ein Frontschwein malt, meine Herren; es ist direkt unästhetisch.“

Der Cicerone, Jg. XVI. 24. Januar 1924, S. 943ff.

Mich schaudert dieses Krieges Georg Gelbke

Kann er das, der Herr, der nicht gedient hat?

Pardon, vous dites.

Mich schaudert ob dieses Arguments.

Über Kinder sprechen nur die,
die Kinder gezeugt und erzogen haben

Scheiße in Szene setzen können nur die,
Die durch Scheiße gewatet sind.
Halt!

Sind wir so klein,
Machen wir uns so klein,
Ducken wir uns!
Trauen wir nicht dem, was wir sehen?

Zeugnis geben
Ausdruck verleihen
Ahnungen aufspüren
Bedrohungen erfühlen
In Texte gießen
In Bildern sichtbar machen
Sind das nicht die Aufgaben_Taten,
Die wir von denjenigen
Erwarten,
Fordern,
Die wir Künstler_innen nennen?

Das Schaffen von Georg Gelbke
Reiht sich in die Linie der Werke von
Francisco de Goya,
Max Klinger
Und besonders
Viel dringlicher in das Umfeld der apokalyptischen Vorkriegswerke
Wie der Seelöwe auf menschlichen Skeletten:
Macht, Alfred Kubin, 1903
Der NACKTE marschierende Krieg_ auch 1903
Das Grausen, Nach der Schlacht, 1903
Ludwig Meidner,
Die Schrecken des Krieges, 1911 – 1914
August Macke, Der Weltuntergang 1914

Der Ausbruch
Des Ersten Weltkriegs
War keine
Überraschung.
Rufer und Mahner
In politischen und kulturellen Kreisen
Mehr als einen

Kann die Welt verbessert werden?

Kann das Kunst?
Will das Kunst?

Käthe Kollwitz gewiss.

Zeigen,
Befreien.

*

Das Ende des Ersten Weltkrieges

Ein politisch und gesellschaftlich
Verstörtes und zerstörtes Europa

Ralph Jentsch, Otto DixDer Krieg (2013), 58.

Auf europäischer Ebene
und auch weltweit
Ist der Nachhall des Ersten Weltkrieges –
jener „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, die das nationale Virus der Moderne in den Köpfen erst richtig freisetzte –
bis heute spürbar,
und dies nicht nur in den nationalen Konflikten Südosteuropas.

Heinrich Theodor Grütter
Walter Hauser, 1914 Mitten in Europa, 2014.

Epilog

[…] Die Bedeutungslosigkeit, mein Freund, ist die Essenz der Existenz, sie ist überall und Immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmen Unglück. Das erfordert oft Mut, sie unter so dramatischen Umständen zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedingungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben.

Milan Kundera, Das Fest der Bedeutungslosigkeit,
dt. 2015, S. 137.


Ulrike Brummert

Chemnitz, Schloßbergmuseum

1. März 2015